12. Türchen

Der Weihnachtsengel

Christian hatte mit seinen erst 35 Jahren schon viel erreicht im Leben. Gleich nach dem Studium hatte er in Berlin eine kleine Werbeagentur gegründet, die sich durch ihre frische und enorm kreative Art sehr schnell zu einem erfolgreichen und Gewinn bringenden Unternehmen entwickelt hatte.
Aber Geld und Erfolg waren für ihn nichts Ungewöhnliches. Als Sohn eines wohlhabenden Bankiers war er im Luxus aufgewachsen und hatte bereits mit 25 Jahren das Vermögen seines Vaters geerbt, nachdem dieser viel zu jung an einem Herzinfarkt gestorben war.
Seine Mutter hatte er nie kennengelernt, da sie seine Geburt leider nicht überlebt hatte. Danach hatte sich sein Vater noch mehr in seine Arbeit vertieft und nur selten Zeit für seinen Sohn gehabt, dem er wahrscheinlich unbewusst immer noch die Schuld am Tod seiner geliebten Frau gab.

Ein richtiges Familienleben hatte Christian also nie erlebt. Bis zu seiner Einschulung wurde er von Kindermädchen betreut und anschließend besuchte er die besten Internate, in denen ihm eine exklusive Erziehung und Ausbildung zuteil wurde.
Wenn er die Ferien zu Hause verbrachte und keine der Bildungs- und Kulturreisen unternahm, die sein Vater häufig für ihn organisierte, beschäftigte er sich mit verschiedenen Sportarten, wie Reiten, Tauchen und Bogenschießen. Später begann er auch noch Golf zu spielen, um hin und wieder ein Bißchen Zeit mit seinem Vater zu verbringen, der ein begeisterter Golfer war.
Dennoch hatte sich zwischen Vater und Sohn nie eine liebevolle oder zumindest freundschaftliche Beziehung entwickelt.
Es verhielt sich aber keineswegs so, daß Christian darunter gelitten hätte…
Er kannte es nicht anders und war der Meinung, daß es ihm an nichts mangelte.
Als er nach der Schule dann in den Staaten studierte, sah er seinen Vater manchmal ein ganzes Jahr lang nicht, weshalb er ihn letztendlich auch nach seinem Tod nicht sonderlich vermisste…
Nur in der Vorweihnachtszeit wurde er manchmal seltsam melancholisch…
Als vermisse er doch irgendetwas… Nur was?
So fing er bald an, eine gewisse Abneigung gegen die Weihnachtszeit zu entwickeln und versuchte oft regelrecht, vor diesen Feiertagen zu fliehen.

Dann „schnappte“ er sich irgendeine der vielen bildhübschen jungen Frauen, an denen es ihm aufgrund seines Reichtums und seines guten Aussehens glücklicherweise nie mangelte und flog mit ihr für ein paar Tage in die Karibik…
Das hatte er auch in diesem Jahr vor.
Er hatte zwei Wochen in diesem Luxus-Spa-Hotel auf  Curaçao gebucht und Jenny, ein sehr gefragtes und wunderschönes Fotomodell und seine derzeitige Favoritin war ihm vor Freude um den Hals gefallen, als er ihr die Tickets gezeigt hatte…
Das würden wundervolle 14 Tage voller Sonne und Nächte voller Erotik werden…
Dachte er…
Und dann kam alles anders…
Genau am Heiligabend sollte es losgehen. Christian holte Jenny mit dem Wagen von zu Hause ab und sie fuhren gemeinsam zu Flughafen. Dort wurden sie bereits von einer Mitarbeiterin der Fluggesellschaft erwartet, die ihnen persönlich ihr großes Bedauern darüber aussprechen wollte, daß wegen eines verheerenden Sturmtiefs für die nächsten Tage sämtliche Flüge in die Karibik ersatzlos gestrichen wären.
Diese Neuigkeiten zogen Christian förmlich den Boden unter den Füßen weg. Er sah die Enttäuschung in Jennys Gesicht und konnte sich unmöglich vorstellen, die sowieso schon gefürchteten Feiertage im kalten Berlin mit einer zu Recht gefrusteten Frau an seiner Seite zu verbringen.
Aber nachdem er sämtliche Schalter aller Fluggesellschaften erfolglos auf der Suche nach einer Alternative abgegrast hatte und überall die Information erhielt, daß alle Flüge Richtung Süden entweder gestrichen oder ausgebucht waren, musste er sich der Situation stellen.

Mehr als schlecht gelaunt fuhr er mit Jenny zurück in sein schickes Penthouse . Während der Fahrt schwiegen sie einander nur an und ihm wurde plötzlich bewusst, daß sie sich im Grunde eigentlich gar nichts zu sagen oder zu erzählen hatten…
Als sie gegen Abend noch ein schickes Restaurant besuchten, hatte sich ihre Laune eher noch verschlechtert.
Jenny stocherte nur lustlos in ihrem Essen herum und textete die ganze Zeit über WhatsApp mit irgendwelchen „Freundinnen“, die gerade irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs waren, während sie hier im grauen kalten Berlin festsaß. Sie ließ Christian ihren Unmut darüber nur allzu deutlich spüren.
Dieser wurde nun wirklich langsam wütend, weil ihm mittlerweile klar wurde, daß seine Freundin im Grunde nicht im Mindesten an ihm, dem Mann und Menschen interessiert war, sondern offensichtlich nur an dem, was er ihr bieten, bzw. in diesem Fall eben leider nicht bieten konnte.
Als er ihr genau das vorwarf, machte sie nicht mal den Versuch, es abzustreiten. Sie meinte lediglich, daß sie zu jung wäre, um ihre wenigen freien Tage über Weihnachten wie ein altes Ehepaar mit ihm daheim zu verbringen, während ihre Freunde und Freundinnen sich in den Metropolen der Welt amüsierten.
Tief enttäuscht und frustriert verließ er den Tisch, zahlte an der Bar die Rechnung und hinterließ beim Kellner einen Umschlag mit einigen hundert Euro und einer Karte, der seiner Begleitung übergeben werden sollte, sobald er das Lokal verlassen hatte.
Auf der Karte hatte er sich bei Jenny für das missratene Weihnachtsfest entschuldigt und ihr geraten, das Geld in einen Mietwagen zu investieren, um ihre Freunde in London, Paris oder Mailand doch noch zu treffen.
Dann verließ er das Lokal und fand sich in den dunklen kalten Straßen Berlins wieder…
Sie hatten sich ein Taxi zum Restaurant bestellt, weil Christian gerne Champagner mit Jenny getrunken hätte und grundsätzlich niemals Auto fuhr, wenn er etwas getrunken hatte…
Nun stand er da, ohne Champagner, ohne Freundin, ohne Auto und ohne die geringste Lust, den Heiligen Abend alleine in seinem Penthouse zu verbringen.

Also ging er einfach los und wanderte ziellos durch die Straßen der Stadt… Überall sah er hell erleuchtete Weihnachtsbäume hinter den Fenstern und hübsch dekorierte Straßen und Geschäfte. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten waren warm eingepackt, Paare oder Familien mit glücklichen Gesichtern auf dem Weg zu Verwandten oder in die Kirche.
Fast alle lachten und redeten miteinander und so mancher trug weihnachtlich verpackte Päckchen unterm Arm.
Niemand ging alleine…
Nur er…
Plötzlich packte ihn die Einsamkeit und die Trauer mit ihrer ganzen kalten Wucht… Er musste einen Moment stehen bleiben, weil er glaubte, nicht mehr atmen zu können, so schwer lastete es auf seiner Brust.
Er stützte sich an einen Laternenpfahl, leicht nach vorne gebeugt und versuchte, zu Atem zu kommen, als plötzlich seine Hand ergriffen wurde…
Er schaute neben sich und konnte niemanden entdecken… Erst als er nach unten sah, bemerkte er den kleinen Jungen, der mit großen besorgten Augen anblickte.

„Ihnen jeht’s aber jar nich jut, wa, Meester? Ham wohl och schon lang nix mehr zu beißen jehabt, oda? Se sin ja janz blass um de Näse. Na denn komm’se ma mit. Icke wollt och jerade in Angela ihre Suppentöppe gucken. Meine Ollen sin schon da un halten mir’n Platz frei. Bestimmt hat Frau Angela och noch’n Tässken Eintopp für Ihnen übrich.“
Mit diesen Worten zog der Kleine Christian, der viel zu verdattert war, um zu reagieren mit sich über die Straße und hielt auf eine schmale Gasse in der Häuserzeile zu.
In der Gasse konnte Christian Stimmen und Lachen von vielen Menschen hören und es duftete köstlich nach Essen. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich war, denn auch er hatte zuvor vor lauter Ärger von den Delikatessen im Restaurant kaum etwas zu sich genommen.
Die Gasse mündete im Hinterhof eines alten Wohnblocks, der hell erleuchtet war. An mehreren Stellen standen Metallfässer, in denen Holzfeuer wohlige Wärme spendeten. An einer Seite stand ein riesiger beleuchteter Tannenbaum, der mit Schokoladenkugeln und kleinen Päckchen geschmückt war. Und in der Mitte des Hofes stand ein aus Holz und Planen zusammengezimmertes Zelt, unter dem sich eine Art Tresen und einige Biertische und Bänke befanden.
Die Tische und Bänke waren fast vollständig besetzt. Überall saßen Leute und aßen. Bei genauerem Hinsehen wurde Christian klar, daß es sich um Menschen handelte, die kein Zuhause, oder kein Geld für eine warme Mahlzeit am Weihnachtsabend hatten. Es waren alte und junge Leute, Obdachlose und Punks, ganze Familien und einzelne Menschen, manche hatten einen Hund bei sich. Ein Rollstuhlfahrer saß mit einer jungen Punkerin am Kopfende eines Tisches, neben sich eine alte Frau mit weißem Haar in einem mottenzerfressenen Pelzmantel, gegenüber eine junge Schwarze mit einem Baby im Arm… Noch nie hatte er eine derart seltsame und buntgemischte Gesellschaft erlebt… Aber vor allem hatte er noch nie eine solche Harmonie und Eintracht gespürt, wie hier in diesem schäbigen Hinterhof mitten in Berlin…
Irgendwie fühlte er sich plötzlich… Zuhause… Angekommen… Beinahe geborgen…

Und irgendwie war er hier ja auch genau richtig… Er hatte zwar ein schickes Penthouse, aber kein Zuhause… Hatte Geld und war dennoch bettelarm… Er war gestrandet, ohne Familie, ohne wahre Freunde, ohne einen Halt…
Wieder wollte sich der Kummer bleischwer auf seine Brust legen, als er von einem lauten und unglaublich herzlichen Lachen abgelenkt wurde. Dieses Lachen ging ihm durch Mark und Bein. Es war so echt, ehrlich und natürlich und so voller Lebensfreude, wie er noch nie ein Lachen gehört hatte. Das Lachen einer Frau. Sofort schaute er sich um, um dieses Lachen nicht nur zu hören, sondern auch sehen zu können…
Und dann sah er sie!
Sie stand hinter dem Tresen an einem riesigen Topf und war gerade dabei, Suppe daraus zu schöpfen…
Und…
Sie leuchtete!!!

Sie war das wunderschönste Geschöpf, daß er je gesehen hatte… Nein… Das stimmte nicht ganz… Ihr blondes Haar hatte sie zu einem nachlässigen Zopf gebunden, ihr von der Kälte gerötetes Gesicht hatte wahrscheinlich noch nie so etwas wie Make-up gesehen und die Ohren wurden von einem alten grauen Stirnband aus verfilzter Wolle vor dem kalten Wind geschützt. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich war sie in etwa sein Jahrgang, aber sie wirkte so unglaublich jung und lebendig. Sie war eher klein und schien nicht nur durch den dicken Daunenmantel etwas rundlich zu wirken. Ihre Hände steckten in Wollhandschuhen mit abgeschnittenen Fingern und schienen schwere Arbeit gewohnt zu sein, an den Füßen trug sie dicke derbe fellgefütterte Stiefel.
Nein, diese Frau war eigentlich alles Andere als schön. Verglichen mit Christian’s Freundinnen wirkte sie eher wie eine kleine Hummel zwischen filigranen schillerndbunten Schmetterlingen…
Aber…
Sie leuchtete! Und strahlte! Und sah aus wie ein Weihnachtsengel!

Während er das alles in sich aufsog, hatte ihm Max, der kleine Junge, der ihn hergebracht hatte erzählt, daß Angela die Eigentümerin der Mietshäuser ist, und sich um ihre Mieter ganz besonders kümmerte. Sie lässt manche Leute sogar umsonst in ihren Wohnungen wohnen und andere zahlen nur soviel Miete, wie sie können. Am Heiligabend kocht sie immer Eintopf für die Bedürftigen. Und hat für alle Kinder ein kleines Geschenk.
Wie hypnotisiert bewegte sich Christian auf den Tresen und diese wundervolle Frau dahinter zu, spürte kaum, daß sich seine Füße bewegten, bis er vor ihr stand, kein einziges Wort über die Lippen brachte und sie einfach nur anstarrte. Als sie ihn bemerkte, brach sie wieder in dieses herzerfrischende Gelächter aus, das ihn so faszinierte. Er musste aber auch zum Brüllen komisch aussehen, wie er da mit vor Staunen offenem Mund vor ihr stand, völlig deplatziert in seinen teuren Designerklamotten mitten in all dieser Armut.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie ihn mit soviel Wärme in der Stimme, daß seine Erstarrung augenblicklich dahinschmolz.
„Ja… Äähh… Eigentlich nein… Oder… Naja, vielleicht ja doch… Also, ich wollte fragen, ob ich Ihnen helfen darf, gnädige Frau…“
Wieder dieses Lachen! Und dann:
„Ich bin keine gnädige Frau… Ich bin Angela, und ja, sehr gerne… Sie schickt mir wohl der Himmel. Eigentlich hilft mir sonst immer meine Schwester, aber die liegt mit einer schweren Erkältung im Bett.“
Schon hatte sich Christian, der schon immer sehr praktisch veranlagt war eines der großen Küchentücher um den Bauch gebunden, die Ärmel seines Mantels hochgeschoben und salutierte zum Spaß mit einer Suppenkelle vor Angela.
„Küchenhilfe Christian meldet sich hiermit zum Dienst.“
Wie erhofft belohnte sie ihn wieder mit ihrem wundervollen Lachen.
Von jetzt an gab es viel zu tun… Teller mussten gefüllt werden, leere Teller wurden abgeräumt und abgewaschen, neue, volle Töpfe wurden aus dem Keller eines der Häuser geholt und auf dem alten Gasherd erhitzt. Anschließen wurde Literweise Kaffee gekocht und große Körbe voller selbst gebackener Plätzchen angeschleppt. Erst kurz vor Mitternacht waren die letzten hungrigen Mäuler gestopft und die letzten Geschenke verteilt.
Langsam leerte sich der Hinterhof. Nur ein paar Leute halfen Ihnen noch beim Abwaschen und aufräumen, dann waren sie allein.

Etwas ratlos stand Christian jetzt vor Angela. Die Arbeit war getan, er könnte sich jetzt eigentlich verabschieden und gehen, aber diese Frau wirkte auf ihn wie ein Magnet, es schien ihm unmöglich auf ihre Gesellschaft zu verzichten. Also stand er einfach stumm vor ihr und während er noch fieberhaft überlegte, wie er sie dazu bewegen könnte, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, legte sie plötzlich ihre Arme um ihn, drückte ihn herzhaft und küsste ihn geräuschvoll auf die Wange.
„Dich hat wirklich der Himmel geschickt, Christian. Ohne Deine Hilfe hätte ich das heute nicht geschafft. Ich danke Dir von Herzen. Kann ich mich irgendwie bei Dir revanchieren?“
„Ja, also… Vielleicht lädst Du mich ja zum Essen ein? Ich liebe gute hausgemachte Gulaschsuppe und gegen einen Kaffee und ein paar Weihnachtsplätzchen hätte ich auch nichts einzuwenden… Außerdem haben ich Hunger wie ein Wolf.“
Lachend verwuschelte sie ihm die Haare.
„Also das ist ja wohl das Mindeste. Das hast Du Dir wirklich redlich verdient und ich hab jetzt auch einen Bärenhunger. Gut, lass uns essen, aber nicht ohne…“,
mit diesen Worten griff sie hinter eine Kiste unter dem Tresen und zog eine Flasche Rotwein hervor…
„auf den Beginn einer ganz besonderen Freundschaft anzustoßen.“

So saßen Christian und Angela noch bis spät in der Weihnachtsnacht im Hinterhof am Feuer, tranken Wein, redeten und lachten miteinander.
Seit diesem Tag war der Heiligabend für Christian der allerschönste Tag im Jahr und niemanden hat es verwundert, daß die beiden nur wenige Jahre später an genau diesem Tag in genau diesem Hinterhof mit all den Menschen, die sich dort jedes Jahr zusammen fanden ihre Hochzeit feierten…
©Felina Felissilvestris 

Liebe Grüße von Felina, die’s normalerweise mit Weihnachten oder Romantik gar nicht so hat.

Felina

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