14. Türchen

Eng zog sie den zerschlissenen Mantel um sich, der letzte Knopf abgerissen, ging sie von ihrer Schicht heim. Die Hände waren aufgerissen, schmerzten in der Kälte. Langsam ging sie über das Kopfsteinpflaster der Innenstadt. Es war dunkel, die Geschäfte längst geschlossen, aus den Wohnungen leuchtete warmer Lichterglanz, an den Fenstern Lichterketten. Tief sog sie die kalte Luft ein. Sie genoss es, allein zu sein. So, dass keiner sie sehen konnte. Sehen konnte, was aus ihr geworden ist. Sie sah in einem Schaufenster ihr Spiegelbild: ein müdes Gesicht blickte sie an, tiefe Augenringe, hohle Wangen, ein leerer Blick zeigte jedem deutlich, dass es ihr nicht gut ging. Der Körper abgemagert, die Schultern hingen.
Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Einst war sie beliebt, hatte viele Freunde. Sie war eine stolze junge Frau, lebensfroh, glücklich. Ihre langen dunklen Haare glänzten gepflegt, die Männer sahen ihr hinterher. Bei dem Gedanken huschte ihr ein Lächeln über die Lippen. Jemand trug einen Weihnachtsbaum an ihr vorbei. Sah sie kurz an. Sie wendete den Blick ab, schämte sich so für das, was aus ihr geworden war.

Wieder gingen ihre Gedanken auf die Reise während sie in einem Fenster einen Adventskranz sah. Drei Kerzen brannten darauf. Der dritte Advent. Sie erinnerte sich daran, was geschehen war. Wie es gekommen war, dass sie nun in einem heruntergekommenen Hotel das Geschirr spülte statt mit ihrer Familie gemütlich beisammen zu sitzen und die Adventszeit zu genießen. Die Erinnerung schmerzte, doch sie wusste, sie würde nicht schlafen können, wenn sie diese Gedanken jetzt verdrängt. Ein Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Stechend blaue Augen, umrahmt von blonden Haaren. Das war er, der Mann ihrer Träume. Damals. Oh wie viele Mädchen hatten für ihn geschwärmt. Aber sie hatte ihn bekommen. Sie war so stolz. Sie tat alles für ihn. Sie fand es süß, dass er sie für sich behalten wollte, dass er nicht wollte, dass andere Männer sie ansehen. „Versteh mich Baby, ich will dich nur beschützen. Ich weiß doch wie Männer denken.“ Die Worte klangen noch in ihren Ohren als wären sie gerade erst gesagt worden. Bitterkeit war in ihren Augen. Sie erinnerte sich an die ersten Schläge. „Versteh mich Baby, du darfst die anderen nicht anmachen, du bist mein.“ Er schlug sie dahin, wo es niemand sah. Und er schaffte es, dass sie sich schuldig fühlte. Dass es sich anfühlte, als seien diese Schläge verdient gewesen. Irgendwann durfte sie das Haus gar nicht mehr verlassen. Ihr Studium brach sie ab, ihm zuliebe. Ihre Freunde hatten sich längst abgewandt, konnten nicht verstehen, warum sie bei ihm blieb. Nur ihre beste Freundin war damals geblieben, doch er verbot ihr den Umgang und so verloren sie sich aus den Augen.

Als sie am Bahnhof vorbei kam, sah sie den offenen Kiosk. Sie kaufte die Flasche Korn die er jeden Abend brauchte. Als sie in ihren Manteltaschen kramte, sah der Verkäufer sie an und seine Augen sagten Nein. Er sagte „Es ist der dritte Advent, bald ist Weihnachten. Ich möchte Ihnen etwas schenken.“ Verschämt senkte sie den Blick. Der Verkäufer sah den blauen Fleck in ihrem Nacken. Seine Hand ging unter die Ladentheke und er gab ihr eine kleine schwarze Dose. „Für alle Fälle“ sagte er und beugte sich über die Ladentheke um es in ihre Tasche zu stecken. Widerspruch zwecklos.
Als sie zuhause ankam, wurde sie nicht mit einem Kuss begrüßt, so wie früher. Noch ehe sie den Mantel ausziehen konnte brüllte er ihr entgegen: „Wo ist mein Korn? Los, her damit!“ Schnell drückte sie ihm die Flasche in die Hand und wich zurück. „Das Restgeld! Los, her damit!“ zitternd kramte sie in ihrer Tasche, fasste das Klimpergeld, gab es ihm. „Das passt nicht, wieso hast du so viel?“ Inzwischen stand sie mit dem Rücken an der Wand, die Hände abwehrend erhoben, wie schon so oft. „w.w…w…war im Angebot“ stotterte sie, doch schon bekam sie den ersten Schlag auf den Bauch. Keuchend krümmte sie sich und als sie sah, dass er wieder ausholte, ging alles wie in Zeitlupe. Sie dachte an die Dose in der Tasche, vor allem aber dachte sie daran, dass sie wieder schwanger war. Dieses Baby wollte sie nicht verlieren. Dieses eine nicht. Als sie in der Manteltasche nach der Dose tastete, traf der nächste Schlag sie auf die Brust. Aber in ihr war plötzlich eine unbändige Energie, sie riss die Hand aus der Tasche und sprühte drauf los. Der einstige Schönling ging zu Boden. Brüllend tastete er nach ihr, doch sie rannte schon zur Tür raus. Sie lief und lief und lief. Ohne Ziel, Hauptsache weg. Irgendwann ging sie in einen Hauseingang, rutschte an der Wand runter und weinte. Hemmungslos ließ sie den Tränen ihren Lauf bis sie keine Tränen mehr hatte. Dann saß sie einfach nur da. Und dachte. An alles und nichts. Und irgendwann kehrte die Energie zurück. Sie griff in die Tasche in der das Pfefferspray steckte. Dort war auch noch ein Zettel und auf diesem Zettel stand „Ich helfen Ihnen. Machen Sie den ersten Schritt, ich helfe Ihnen.“ darunter war eine Adresse.
Sie stand auf und ging zu dieser Adresse. Es war ein schönes Haus, aus vielen Fenstern schien der Glanz der Vorweihnachtszeit. Erst zögerte sie aber es sah so einladend aus. Noch bevor sie klingeln konnte, wurde ihr die Tür geöffnet. Hinter der Tür sah sie ihre beste Freundin aus Schultagen. Sie umarmten sich lange, dann legte die Frau ihren zerschlissenen Mantel ab. Sie würde ihn nie wieder anziehen. Sie würde auch nie wieder zurück gehen.
An Weihnachten strahlten ihre Augen, glänzten ihre Augen. Nun war sie wirklich in guter Hoffnung.

Zwiespalt

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3 Kommentare zu „14. Türchen

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