#einearmlaenge

In der Silvesternacht kam es am Kölner Bahnhof zu massiven Übergriffen auf Frauen. Die Tatvorwürfe laufen laut diverser Medien auf verbale Belästigung, unerwünschtes Berühren bis hin zu Vergewaltigung hinaus. Einer Polizistin sei dabei in die Hose gefasst worden, an anderen Stellen steht, sie sei vergewaltigt worden. Was stimmt und was nicht ist jedoch nicht Thema dieses Posts; über Richtigkeit der Vorwürfe zu urteilen bin ich nicht qualifiziert. Stattdessen gehe ich hier auf den Hashtag #einearmlaenge ein und prüfe die Vorwürfe an OB Rieker.

In einer Pressekonferenz soll die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, gesagt haben, Frauen sollen mehr als eine Armlänge Abstand zu Fremden halten. Dafür erntete sie in den Sozialen Medien einen großen Shitstorm. Hören wir uns die Stelle selbst an: (Minute 16:00)

Journalistin Frau Peters fragt, wie man sich in einer solchen Situation [wie am Bahnhof Köln] schützen könne.

Darauf Reker: „Es ist immer eine Möglichkeit, eine gewisse Distanz zu halten, die weiter als eine Armlänge betrifft. Also von sich aus schon gar nicht eine große Nähe zu suchen zu Menschen, die einem fremd sind, zu denen man kein gutes Vertrauensverhältnis hat. Aber es gibt viele andere Möglichkeiten […] sich in Gruppen zusammen zu finden, sich nicht trennen zu lassen, […] sondern in der Gruppe, in der man losgegangen ist, zu bleiben. Es gibt auch Möglichkeiten, die auf der Seite der Stadt Köln nachzulesen sind.”

Reker verteidigte ihre kritisierte Äußerung, eine Armlänge Abstand zu Fremden zu halten, damit, dass der Satz in Berichterstattungen aus dem Zusammenhang gerissen und ihre Bemerkung falsch dargestellt wurde.

Tatsächlich hat sie nicht bloß gesagt, was ihr unter dem Hashtag #einearmlange vorgeworfen wird. Sie versuchte, die Frage der Journalistin zu beantworten. Dass dabei nicht viel herausgekommen ist, was tatsächlich helfen würde, könnte man wiederum als schlechte Vorbereitung oder mangelhafte Presseskills verbuchen. Ich hätte es persönlich für angebracht gehalten, ein paar Tipps zur Prävention vorzubereiten. Nun gut.

Dennoch sind diese Sätze eben gefallen und daher kann man sie kritisieren. Solche Aussagen, wie man sich als potenzielles Opfer verhalten sollte, haben -für mich- immer einen faden Beigeschmack. Es erinnert doch ein wenig an solche Forderungen wie die, keine Miniröcke zu tragen. De facto gehen solche „Verhaltenstipps“ immer in Richtung des Opfers und schränken dieses in seiner Bewegungsfreiheit und in seinem Verhalten ein. Dabei sollten mMn Präventionsmaßnahmen auch -oder gar hauptsächlich- gegen (mögliche) Täter gerichtet sein, etwa bei bekannten Straftätern. (Die Nachsorge ist in allen Straftatsbereichen mangelhaft.)

Natürlich ist Prävention wichtig. Ich selbst habe mich informiert, wie ich mich schützen kann und treffe vor jeder Partynacht wieder Vorkehrungen, soweit so etwas möglich ist. Trotzdem heißt das nicht zwangsläufig, dass einem dann nichts passieren könne. Man kann von der Gruppe getrennt werden; es ist nicht immer jemand da, den man um Hilfe bitten kann; an das Handy kommt man im Ernstfall vielleicht nicht schnell genug; Pfefferspray ist verboten; Dinge, die man zur Selbstverteidigung nutzen könnte, werden an der Clubtür abgenommen (weil man damit selbst zum Täter werden könnte). Wenn dann eine kleine Frau ohne Nahkampffähigkeiten von einem großen Mann angegriffen wird, hilft ihr in diesem Moment auch kein Verhaltenscodex. (Es kann auch ein kleiner Mann von einer kräftigen Frau angegriffen werden; der Satz war ein Beispiel.)

Anlässlich der aktuellen Übergriffe an deutschen Bahnhöfen in der Silvesternacht erklärt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS: „Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz vor sexuellen Übergriffen und kein Patentrezept, wie brenzlige Situationen auf jeden Fall gelöst werden können. Eine Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Größe der Tätergruppe sowie ihr Organisationsgrad, wie die aktuellen Fälle zeigen. Manchmal hilft leider die beste Vorbereitung nichts.“

Quelle

In einer Masse von laut Polizeiangaben 1000 feiernden Menschen ist es schwer, andere auf einer Armlänge Abstand zu halten. Und wer von einer Gruppe isoliert und umzingelt wird, hat darauf ohnehin keine Chance. Sollte man deswegen große Menschenmassen meiden? Muss ich mich fragen, wo ich (als Frau) feiern gehen kann, ohne in Gefahr zu geraten? Halte ich weniger Abstand (als eine Armlänge), gebe ich damit ein Einverständnis, ein Zeichen; bin ich dann mitverantwortlich, wenn mir etwas geschieht? Davon ab geschehen Sexualverbrechen ja nicht nur auf Parties und bei Nacht…

Grundsätzlich irritiert mich an der geschilderten Tatsituation, dass offenbar wenig Zivilcourage gezeigt wurde. Laut Polizeipräsident Albers gingen in der Nacht drei Notrufe ein, die zu einem Polizeieinsatz führten. Warum nur drei, wenn doch so viele Menschen auf diesem Platz versammelt waren? Und weshalb gab es keine (oder nicht ausreichend viele?) Polizisten auf den sicher zu solchen Anlässen immer gut besuchten Plätzen wie dem vor dem Kölner Hauptbahnhof und Dom? Und weshalb behauptet die Polizei, von den Übergriffen erst durch die späteren Anzeigen erfahren zu haben?

Deutlich zeigen solche Schlagzeilen, Skandale, Krisen, dass offene Diskussionen über den gesellschaftlichen Umgang mit sexueller und allgemein körperlicher Selbstbestimmung noch immer nicht ausreichend geführt werden, dass Zivilcourage nicht (immer) erwartet werden kann, dass Opferschutz noch immer unzureichend geschieht (was der Weiße Ring schon seit Jahrzehnten kritisiert.) #einearmlaenge ist daher für mich (auch) ein Symbol gesellschaftlicher Mängel, die bekannt sind, aber ungelöst bleiben – und der absurden Vorstellung, Gewalt könne durch Verhaltensregeln verhindert werden.

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Ein Kommentar zu „#einearmlaenge

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