180 Grad

Manchmal frage sie sich, meine Therapeutin, was sie zu dem, was ich ihr erzähle, eigentlich noch sagen soll. Oberflächlich betrachtet ist alles gut und was nicht gut ist, wirft mich auch nicht aus der Bahn. Sie sagt, ihr sei der Eindruck entstanden, dass ich weniger zum Problemwälzen und mehr zum Einholen einer Rückversicherung da sei. Schließlich habe ich eine 180-Grad-Wendung gemacht, seit ich das Studium begonnen habe.

Da hat sie mich tatsächlich erwischt. Mir geht es oft so, dass ich gar nicht weiß, was ich erzählen soll. Brennende Probleme wie noch vor ein paar Monaten gibt es nicht mehr. Überhaupt sind meine Tage aktuell so geschäftig, dass ich gar keine Zeit habe darüber nachzudenken, was nicht gut läuft – und das ist wohl die Lösung für mich.

Ich bin ein Grübler. Für mich gibt es nicht viel, was mich so zerstört wie zu viel Freizeit. Oder besser gesagt Freizeit, in der ich mich langweile und vor mich hin gammle. Das ist pures Gift für Grübler. Das heißt nicht, dass ich nicht auch mal einen freien Abend oder ein freies Wochenende genieße. Hätte ich aber mehrere Wochen nichts zu tun, würde ich ziemlich wahrscheinlich wieder in meine Negativspirale driften. Die Erfahrung bestätigt das.

Es ist viel schwerer sich zu motivieren, wenn man kein Tagesziel hat, als sich zu motivieren, wenn man viel zu tun aber keine Lust hat.

Vor der Uni war ich tatsächlich anders als jetzt. Ich habe -salopp gesagt- zu meinem alten Ich aus der neunten Klasse zurück gefunden, als ich rebellisch war und selbstsicher und Klassensprecher und resilient. Klar hatte ich auch da mal einen beschissenen Tag, aber ich habe ihn überstanden und nicht wie noch letztes Jahr zwei Wochen daran zu knabbern gehabt.

Dann kam die Uni und mein Entschluss: Ich will nicht mehr ängstlich sein, ich will dazugehören, ich will gerne zur Uni gehen. Ich kann jeder sein, der ich will, weil mich niemand kennt. Also bin ich, wer ich gerne sein möchte.

Es hat mich viel Überwindung gekostet und ich war oft nervös und habe gezweifelt, hatte Berührungsängste und die Frage im Hinterkopf, ob er oder sie mich mag. Doch es ist mir gelungen: Ich bin, wer ich sein möchte.

Das klingt klasse und das ist es auch. Einfach ist es aber nicht. Denn diese Verwandlung ging irrsinnig schnell. Innerhalb weniger Wochen war ich nicht mehr ein graues Mäuschen, sondern das Mädchen mit den bunten Ideen. Und so sehr es mir gefällt, aus mir raus zu gehen und bekannt zu sein und gemocht zu werden, weil ich Spaß mache, so sehr zweifle ich manchmal im Nachhinein, weil ich mich frage, ob ich übertrieben habe, ob ich nerve, ob ich überhaupt ernst genommen werde. Und da setzt eben die Therapie an. Ja, ich gehe dort zur Zeit hin, um eine Rückversicherung zu bekommen. So schnell wie meine Transformation vonstatten ging, ist es nicht verwunderlich, dass ich mir selbst noch nicht ganz traue.

Ich bin aber auf dem besten Weg.

17 Kommentare zu „180 Grad

  1. „Ich bin ein Grübler. Für mich gibt es nicht viel, was mich so zerstört wie zu viel Freizeit. Oder besser gesagt Freizeit, in der ich mich langweile und vor mich hin gammle. Das ist pures Gift für Grübler“
    -> Oh ja! Aber sowas von! Ein eindeutiger Fall für eine Notbremsenregelung, und sei es, dass man einfach ins Bett geht oder sowas Drastisches macht wie RTL II gucken! 😉

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    1. Ja, solche Kniffe habe ich mir auch bereit gelegt. Handwerkszeug, das ich erst über die Jahre lernen, aber auch anzuwenden lernen musste. Das klappt mittlerweile ganz gut. Man muss halt das für sich richtige finden und es auch umsetzen können.

      RTL II ist zum Glück gar nicht erst möglich da ohne TV-Anschluss. Und sowas in den Browser einzugeben käme mir gar nicht in den Sinn. (Aber pssst, auf Youtube gibt’s genug ähnliches Gedöns. 😀 )

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      1. Klar darfst Du das fragen, Mollymaus. Man soll ja angeblich alles fragen dürfen und fragen kostet nix. Und manchmal bekommt man sogar Antworten. Manchmal sind die ganz geradlinig und ein anderes Mal ganz verworren.
        Ich hatte eine stark ausgeprägte Depression nach einem Schicksalsschlag, die meinen Alltag nahezu unmöglich gemacht hat. Meine erste Therapie bestand quasi darin, mich wieder zu befähigen, meinem Alltag nachzugehen. Die jetzige Therapie beschäftigt sich mit dem „Feinschliff“ und vor allem der Vorbeugung, immerhin hat Depression einen sehr hohen „Rückfall“-Quotienten. Aber Ursachenforschung ist auch ein bisschen dabei, denn auch vor dem Schicksalsschlag gab es so ein paar Tendenzen. Ist eine super Sache, denn so kann ich einerseits verstehen, warum ich manche Dinge so mache, wie ich sie mache und woher Gewohnheiten/ Ansichten/ Ängste etc kommen. Gleichzeitig lerne ich, wie ich mich verändern kann. DASS ich mich verändern möchte, habe ich ja schon festgestellt. Jetzt erfahre ich das Know-How. 🙂

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      2. Wow. Wie stark und mutig und tapfer musst Du sein, es schon bis hierher geschafft zu haben? *Strahl*
        Ich lese Dich ja noch nicht so lange … schreibst Du auch darüber? Ich kenne zB ein paar Leser von mir (teilweise per Mail), die auch Depressionen haben oder hatten und denen es immer sehr weiterhilft, wenn offen darüber geredet wird.

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      3. Awww, dankeschön! Ja, das war schon ein ganz schön harter Kampf mit vielen Rückschlägen und unendlich vielen Tränen und Zweifeln.

        Manchmal schreibe ich darüber, aber eigentlich nicht sehr häufig. Die wirklich schlimmen Zeiten sind ja vorbei und darin eintauchen will ich auch nicht wieder. Ich hatte hier mal eine passwortgeschützte Reihe, in der ich sehr tief gegraben habe, die jetzt allerdings offline genommen ist. Ansonsten, wenn es sich anbietet, schreibe ich schon offen und ehrlich und ungeblümt. Ich habe mich lange geschämt, aber das ist ja nun wirklich nichts zum schämen. Wenn man erst einmal feststellt, wie vielen es ähnlich geht, ist das eigentlich keiner großen Geheimniskrämerei mehr wert.

        Mir haben solche Erfahrungsberichte damals auch geholfen. Andererseits läuft man Gefahr, sich darauf zu versteifen und seine miese Lage zu „zelebrieren“, was auch einmal ein Grund war, keinen extra Blog dafür einzurichten.

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      4. Ja, das glaube ich. Einmal das mit dem harten Kampf und einmal, dass man manchmal nicht darüber reden möchte ( vor Triggern kann man allerdings warnen, ist immerhin DEIN Blog, also solltest Du Dir auch selbst erlauben, zuschreiben, was Du magst!)
        Ist ja einfach mal Fakt: Wenn man über etwas schreibt/redet, wird man darauf angesprochen, ist ja normal. Wir reden ja auch grade über das Thema Depression, 😀
        Vor vielen vielen Jahren hatte ich auch einmal einen „Schicksalsschalg“ einzustecken – und habe meiner besten Freundin nichts davon erzählt. Jahre später fragte sie mich heulend, warum ich ihr das nicht erzählt hatte, warum ich ihr so wenig vertarut hätte. Ich war wirklich erschrocken, hatte mir ehrlcih gesagt nie Gedanken darüber gemacht, wie sie das auffassen würde. Denn irgendwann, klar, hat sie es ja schon mitbekommen.
        Daraufhin musste ich erst einmal nachdenken. Und kam dann zu folgender Antwort: „Liebe Freundin! Ich habe Dir nicht deshalb nichts davon erzählt, weil ich Dir nicht vertaruen würde oder Dich fern halten würde oder so, im Gegenteil! Du bist und warst mir so wichtig und unsere gemeinsame Zeit war und ist mir so schön und wertvoll – die wollte ich einfach nicht kaputt machen! Denn wenn ich es Dir erzählt hätte, hättest Du wie die beste, tollste, besorgte Freundin reagiert. Aber eben das wollte ich nicht. Ich wollte Dich, wenigstens Dich so haben, wie es immer zwischen uns war. Dass Du mich nicht mitleidvoll anschaust, dass Du blöde Späße mit mir machst, die sich andere in meiner Gegenwart jetzt nicht mehr trauen, dass ich mit Dir lachen kann, ohne mir omsich vorzukommen!“
        So etwa.
        Ist komisch?
        Ist schonmal so. 🙂

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      5. Kenne ich sehr gut so und genau diese Entscheidung habe ich auch bei manchen Freunden getroffen. Andere habe ich in der tiefschwarzen Zeit gehen sehen, die meisten waren einfach keine wirklichen Freunde, ein oder zwei konnten damit nicht umgehen und das ist eben so. Den Fehler, jemandem ALLES zu erzählen, mache ich sicher nicht mehr. Und muss ich auch gar nicht. Irgendwann ist ja auch mal gut. Mittlerweile lebe ich viel lieber im Heute und Jetzt. 😉

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      6. manchmal ist das Leben so schwierig, dass ich hinegehen und Leute schütteln mag, die solch einfältige Probleme haben, dass ich es nicht fassen kann. Dann komme ich wieder zur Besinnung und stelle fest, dass ICH sicher auch wieder auf andere Menschen so wirke, als hätte ich Probleme, die den Namen nicht verdienen … Es ist immer schwierig und zuweilen schlicht unmöglich, sich in jemand anders hineinzuversetzen. Ich denke, das hat nicht immer was mit mangelnder Freundschaft oder Freundlichkeit zu tun, oder mangender Emphatie, sondern damit, dass uns schlichtweg Grenzen gesetzt sind. Noch vor ein paar Jahren hätte ich vielleicht zu Dir gesagt: „Du bist jung, gesund, bist intelligent und gebildet, also was soll der Scheiß von wegen Depressionen, reiß Dich doch mal zusammen und stell Dich nicht so an!“
        Leben ist lernen und ich denke, jeder von uns muss lernen, mit sich selbst auszukommen. Dann kann man über Menschen, die einen nicht verstehen oder enttäuschen hinwegkommen.

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      7. Ja, zu akzeptieren, dass nicht jeder einen versteht und es viele auch nicht wollen war ein Schritt in die Besserung. Nicht jedem zeigen zu wollen, wie scheiße es mir gerade geht, damit die das begreifen und mich dann zu ärgern und somit weiter in die Spirale zu schliddern, wenn sie es halt nicht verstehen. In einer Depression lernt man so unheimlich viel über sich selbst und über andere, es ist unglaublich. Es ist wie ein Hardcore-Lerncamp, aus dem man erst wieder raus darf, wenn man das letzte Sandkorn am Strand der Lektionen aufgesammelt und skelletiert hat. Und wie viele Sandkörner man vor sich hat weiß man erst, wenn man das letzte fertig analysiert hat. Dann hat man es endlich geschafft und darf gehen. Und kommt dafür an einem Steinstrand an. Da sind die Probleme wenigstens einfacher zu sehen. 😀

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      8. Zu skelletierende Sandkörner? Babe, welch grandioses Bild! 🙂
        Aber auch erschreckend … Ahrg, „Hadrcore-Lerncamp“ sollte mich irgendwie neugierig machen, oder? Stattdessen denke ich wirklich nur: „Hoffentlich steckt mich da niemand rein!“ 😀

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      9. P.S.: Dann ist da ja auch noch die Sache mit dem Triggern. Ich will keinen meiner Leser in Gefahr bringen, darum wird es den einen oder anderen Gedanken hier nicht zu lesen geben.

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  2. Ich kann dir sagen, dass du ein Mensch bist, auf den man neugierig wird. Ich frage mich zumindest, wie du wohl so im richtigen Leben sein magst.

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