Vor Kurzem geisterte helle Aufregung über etwas durch Netz und Nachrichten, was mich aufhorchen ließ. Es geht um die Giraffe Marius, die im Kopenhagener Zoo geschlachtet und an die Löwen verfüttert wurde.
Nun gab es hitzige Pro-Kontra-Debatten, Demos, Aufrufe und etliche Expertenwortmeldungen. Was mir auffiel ist das Wanken der Menschen, wie sie diese Tatsache nun finden sollen. Selbst einzelne Nachrichtenportale änderten ihre Meinung je nach Tagesform. Das ganze ist vom soziologischen Standpunkt aus gesehen einfach wahnsinnig interessant zu beobachten. Ich möchte versuchen euch zu erklären, warum und weshalb man eigentlich diesen Knoten im Hals verspürt, wenn eine Giraffe den Löwen zum Fraß vorgeworfen wird.
Beginnen wir mit Simmel. Simmel schrieb 1910 eine Abhandlung mit dem Titel „Soziologie der Mahlzeit„, in der er festhielt, dass Essen die gemeinsamste aller Gemeinsamkeiten der Menschen untereinander ist. Wir mögen anders aussehen und anders denken, doch wir alle müssen essen. Dadurch, dass Essen uns so gemeinsam ist, können wir darin zusammenfinden, uns in der Mahlzeit sozialisieren, Bande knüpfen. „In dem Maße, in dem die Mahlzeit eine soziologische Angelegenheit wird, gestaltet sie sich stilisierter, ästhetischer, überindividuell regulierter.“ Wir stellen Regeln auf, die es beim gemeinsamen Essen einzuhalten gilt, etwa das Benutzen von Besteck, nicht zu rülpsen und zu furzen und auch nicht über die eitrige Entzündung am Hintern zu sprechen.
Nun gilt es nicht nur für den Essenden, sondern auch für das Essen, besondere Regeln einzuhalten. So soll etwa eine Mahlzeit nicht zu hübsch und kunstvoll, ästhetisch gestaltet sein, da es dazu führte, dass man sich nicht wohl dabei fühlte, sie zu essen. „Das individuelle Aussehen einer Speise würde sich mit ihrem Zwecke, verzehrt zu werden, nicht vertragen: das wäre wie Menschenfresserei.“ Es ist jedoch auch wichtig, WAS man eigentlich isst – und hier kommen wir zum Knackpunkt der Giraffenfrage.
In verschiedenen Kulturen gibt es einen unterschiedlichen Konsens darüber, was gegessen wird und was nicht. Da isst man keine Kuh, dort kein Schwein und wir hier könnten uns kaum überwinden, eine Katze zu verspeisen. Überhaupt könnte man meinen, dass alles, was bei uns als niedlich oder süß gilt, nicht gegessen werden soll, wobei man sich nun wieder darüber streiten könnte, ob denn ein Schwein, eine Kuh, eine Ziege oder ein Huhn nicht niedlich seien. Zu bestimmten Tieren haben wir bestimmte Bezüge; wir wachsen damit auf, dass es in Ordnung ist, Schweinebraten zu essen, aber nur Geisteskranke Hundeschnitzel zu den Klößen verlangen würden. Was wir nicht von Kleinauf als „essbar“ kennenlernten, erregt in uns einen Ekel, einen Widerstand.
Ich bezweifle, dass irgend jemand in Europa mit Giraffenfleisch aufwuchs. Im Gegenteil: Tiere wie Giraffen lernen wir als besonders schützenswert kennen. Sie sind exotisch und bedroht. Wer sie tötet vergeht sich nicht nur an diesem einzelnen Tier, sondern an der Natur als Ganzes.
Ihr fragt euch vielleicht: Was hat denn der Fall Marius mit dem menschlichen Nahrungsverhalten zu tun? Ganz einfach: wir projizieren sehr gern unsere Essverhalten auf Tiere, mit denen wir irgendwie zu tun haben – und sei es auch nur in abstrakter Vorstellung. Vielleicht kennt ihr das ja, dass ihr bibbernd vor der Tierdoku sitzt und denkt „Nein, Löwe, töte dieses niedliche Antilopenjunge nicht!“ Oder es ekelt euch, wenn Miezi ihre gefangene Maus verspeist. Wir drücken „unseren“ Tieren gern das auf, woran wir selbst uns zu halten verpflichtet fühlen. Und aus genau diesem Grund hat man es auch geschafft, den Gedanken „Aber doch nicht Giraffe!“ auf die Löwen im Zoo zu übertragen.
Es ist uns fast wie Menschenfresserei. Die Giraffe hatte einen Namen: Marius. Sie war keine Giraffe, sondern eine Person. Personen haben Namen. Wir haben eine Person den Löwen vorgeworfen! So fühlt es sich an und deshalb sind wir dagegen, obwohl es viele gute, natürliche Gründe gab, genau so zu handeln, wie es der Kopenhagener Zoo getan hat. Im Prinzip -und das möchte ich betonen- ist es eine Gefühlsduselei, die uns so in Rage bringt. Es hätte wenig überzeugende Gründe gegeben, die Giraffe nicht zu verfüttern. Klar, Giraffen sind gefährdet, aber seien wir mal ehrlich: ändert eine im Zoo geborene Giraffe, die niemals hätte ausgewildert werden können, denn etwas daran? Sicher nicht. Es sprach einiges dafür: Platzmangel, Alternativlosigkeit, Inzuchtgefahr etc. Doch ich will nicht auf Pro und Kontra eingehen.
Festzuhalten ist: Es tut uns leid. Die arme kleine Giraffe, die einen Namen hatte, musste sterben, damit ein anderes Zootier sich davon ernähren konnte. Ohne diesen Vorfall hätten wir vermutlich niemals von ihrer Existenz erfahren und wäre nicht sie verfüttert worden, dann vielleicht die arme Kuh Elfriede, doch wir fühlen uns trotzdem schlecht, dass es ausgerechnet Marius sein musste. Wir Menschen sind schon komisch, nicht?
