Ich bin hypersensibel. Es fällt mir schwer das zuzugeben. Es fiel mir auch schwer, das zu erkennen. Ich brauchte 25 Jahre dafür. Aber ja, jetzt wo ich es weiß, ist so vieles einfacher geworden. Weil ich es mir erklären kann. Weil ich mich selbst etwas mehr verstehe und damit auch meine Umwelt besser.
Wenn ich jemandem aus dem Stegreif und ohne Wikipedia erklären müsste, was das überhaupt ist, Hypersensibilität, dann fiele mir das gar nicht so einfach. Weil ich es nicht WEISS, sondern weil ich es FÜHLE. Ich ERLEBE es.
Es fängt damit an, dass ich erst vor gar nicht so langer Zeit erfahren musste, dass andere Menschen Musik gar nicht so intensiv erleben wie ich. Das richtige Lied und ich bin weg – im Kopf wie im Herzen. Es reicht eine einzige Melodie, um meine Stimmung um 180° zu drehen. Wenn ich ein Lied mit jemandem teile, dann teile ich nicht nur ein Lied. Dann teile ich Gefühle, tiefste Emotion. Dann hör dir verdammt nochmal den Text an, spüre die Melodie in deinen Fasern! Genau DAS fühle ich gerade!
Ähnlich geht es mir mit Büchern und Filmen. Ich begleite die Protagonisten nicht, ich BIN die Protagonisten. Ich mache alles durch, was sie durchmachen. Ich bin mittendrin statt nur dabei. (Woher kommt das nochmal?)
Noch viel intensiver wird es natürlich bei realen Personen. Wie oft habe ich geweint und bin verzweifelt, wenn mir jemand etwas Schlimmes anvertraut hat? Wie oft kam ich tagelang nicht aus meinem Loch, weil es jemand anderem gerade schlecht ging? Habe gespürt, was in jemandem vorging, ohne dass er etwas sagen musste? Habe mich davon anstecken lassen? Das heißt jetzt nicht, dass man mir nix erzählen darf. Im Gegenteil. Ich habe nur eben eine andere Art, es zu verarbeiten. Ich kann vielschichtige Gefühle wiedergeben und sie sogar erklären. Weinen ist dabei nur mein Ventil und keine Schwäche. Und aus dem Erzählten anderer kann ich nicht nur ihnen oft ganz gute Problemlösungen bieten, sondern meistens auch noch eine „Lehre“ für mich herausziehen. Quasi eine Win-Win-Situation, wenn auch gerne langwierig und erst einmal schmerzhaft. (Woran ich mich zunehmend gewöhne.)
Und wie oft habe ich noch Wochen nach einem Erlebnis davon gezehrt? Wie lange hängen mir Geschehnisse nach?
Wurde nicht verstanden, weil ich die Welt nicht nur sehe, sondern sie zuallererst fühle?
All das ist nicht einfach. All das macht meinen Alltag oft unnötig kompliziert und ja, oft leide ich deswegen. Manchmal möchte ich meine Fühler einfach abknicken, meine ewigen Gefühle, die so stark sind, einfach abschalten. Einfach mal nur mich selbst spüren und nichts anderes.
Doch andererseits, so schmerzhaft diese Gabe ist, so ist es dennoch eine Gabe. Sie macht mich besonders. Sie zeichnet mich aus. Sie erlaubt mir eine andere Sicht auf die Welt, die andere nicht haben. Ich sehe MEHR. Natürlich muss ich dadurch auch mehr verarbeiten und das ist nicht immer leicht.
Ich liebe es dennoch. So viel Gefühl. Oh, so viel Gefühl! Es zeigt mir, dass ich lebe. Ja verdammt, ich lebe! Und ich liebe! Intensiv!
Habe mich in etlichen Deiner Passagen wiedererkannt. Aber offen gesagt, möchte ICH lieber auf einen Teil dieser „Gabe“ gern verzichten – Dinge anders zu erleben als alle Anderen macht Dinge wirklich kompliziert, denk nur an sich anbahnende (oder eben nicht) Beziehungen und Verhältnisse…nein, es ist öfter eine Strafe denn eine Gabe, hypersensibel zu sein. Zumindest für mich.
Allerdings wird es -und ICH darf das wohl sagen- mit zunehmendem Alter besser. Nicht grundsätzlich, aber man lernt Situationen und sich besser einzuschätzen und in den Griff zu bekommen, vor allem die eigenen Emotionen dabei.
Aber Hypersensibilität schleift auch innerlich die eigenen Kraftreserven ab, wenn sie ungebremst ausgelebt und untherapiert bleibt. Dauerhaft nicht richtig verstanden zu werden von der Umwelt kann auch mal zu Depressionen führen bzw. diese verstärken.
Und DANN hat da KEINER was von dieser „Gabe“.
Man sollte sich aber nicht nur drauf verlassen, dass das Lebensalter dabei helfen wird, sondern auch therapautische und medikamentöse Steuerung in Erwägung ziehen.
Denn wenn man Alles davon unterlässt, kann es auch passieren, dass man irgendwann Beides parallel braucht. Womöglich dauerhaft.
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Natürlich ist es nicht immer einfach damit. Hat ja nie einer gesagt, dass es einfach sein würde. Und ich möchte auch mal mehr, mal weniger von der Gabe, die genauso gut ein Fluch sein kann, befreit sein.
Trotzdem: ich sehe Dinge, die andere nicht sehen können. Ich kann andere besser einschätzen, ihre Körpersprache recht zuverlässig deuten, kleinste Muster wahrnehmen und daraus manchmal sogar die nächsten Handlungen oder Gedanken ableiten. Ist scon ziemlich krass (auch wenn es manche Menschen verschreckt, weil sie denken, ich sei in ihrem Kopf.)
Ich hab auch geschrieben wie oft ich leide. Trotzdem denke ich nicht, dass man großartig daran herumdoktern sollte. An Depressionen, die oft damit einhergehen, ja. Sich kleine Schubser geben lassen, wenn man hakt, klar.
Aber nicht an der HS. Ich sehe sie eher als Teil der Persönlichkeit. Und seine Persönlichkeit lässt man sich nicht „rein waschen“, auf keinen Fall.
HS ist keine Diagnose. HS ist keine Krankheit. HS ist eine Eigenschaft.
(Mit der Kraft zu haushalten kann man aber auch lernen.)
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Nachdem ich das jetzt gelesen habe, bin ich mir sicher geworden: ICH bin es auch!! *kreisch*
Ja, wir sind es.
Und das ist auch GUT so!.:)
Ich liebe solche Menschen, waren mir schon immer sympathisch.
(Zugegeben: Auch wenn es nicht immer einfach ist…)
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Noch so eine… 🙂
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